Die Demonstrationen der Bewegung 15M dezentralisieren sich meinem Eindruck nach immer mehr. Gestern Abend haben die Demonstranten, die seit dem 15. Mai die Puerta del Sol besetzt halten, durch Abstimmung beschlossen, die Sol am nächsten Sonntag zu räumen.
Ich vermute, ein gewichtiger Grund für diese Entscheidung liegt darin begründet, dass die Proteste stark studentisch geprägt sind und diese nun kaum noch Zeit haben. Hintergrund: Es gibt hier keine Semester, man zählt in Studienjahren. (Umgangssprachlich korrekt, aber „technisch” wird auch von Semestern geredet.) Ein Studienjahr beginnt im September und hört Ende Juni auf. In den meisten Studiengängen finden fast alle Prüfungen eines Studienjahres gegen Mitte bis Ende Juni statt — jetzt!. Wenn man das im Hinterkopf hat, kann man die Entscheidung wahrscheinlich nachvollziehen. Und im Juli und August sind dann besonders viele Studenten nicht mehr in Madrid oder anderen Städten, sondern bei ihren Eltern und / oder an der Küste.
Ich persönlich glaube aber nicht, dass dies das Ende ist. Es ist nur wahrscheinlich das Ende dieser Etappe. Die Probleme sind weiterhin alle vorhanden, die Wut vieler auf „das System”™ scheint durch die ernüchternden Wahlen vom 22. eher noch gestiegen zu sein. Die (Netz-) Strukturen und das Mobilisierungspotential werden bleiben und so halte ich es für wahrscheinlich, dass die Proteste in näherer Zukunft wieder aufflammen werden. Vielleicht schon im Herbst.
Wer sich noch ein Bild der Proteste der letzten Wochen machen will, dem empfehle ich The Spanish Protests auf TotallyCoolPix.com.
Mittwoch, 08. Juni 2011 |
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Kommentare deaktiviert für Bewegung 15M: Pause oder Ende?
Menschliche Arbeit ist hier relativ billig. Das Wort „Wirtschaftskrise” ist seit Jahren in aller Munde und zudem gibt es in Madrid sehr viele Immigranten aus Süd- und Mittelamerika. Über billige Arbeitskräfte zur Müllsortierung habe ich schon geschrieben. Weitere Beispiele: Eine große Lotto-Gesellschaft hat hier an jeder fünften Straßenecke ein Verkaufshäuschen, in dem sich die Verkäufer nach meiner Beobachtung meistens langweilen. Parkarbeiter für Gartenarbeit sehe ich meist „im Rudel” und oft bei der Pause. Arbeit für wahrscheinlich tausende bieten auch Gas‑, Energie- und Wasserunternehmen: In meiner Wohnung kommt fast jeden Monat jemand vorbei, um genau einen Zählerstand abzulesen. Später kommt dann jemand anderes, um einen anderen Zählerstand abzulesen. ?!
Es kommt mir mittlerweile so vor, dass eine höhere Produktivität nicht wirklich angestrebt wird, weil man dann nicht weiß, was man mit den vielen Menschen machen soll.
In dieser Woche war es in Madrid bezogen auf die Proteste relativ ruhig. (Und bei mir in Bezug auf deren Beobachtung auch, da ich die gesamte Woche über Besuch bei mir hatte.) Hauptaufreger war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Barcelona. Wahrscheinlich war es deswegen am Freitag Abend / Nacht wieder sehr voll an der Sol; die Tage zuvor, an denen ich immer mal wieder vorbeischaute, war die Sol ungefähr halb voll. Auch wenn es zynisch klingt — die gewaltsame Niederschlagung in Barcelona hat der Bewegung „geholfen” in dem Sinne, dass sie in der Berichterstattung wieder nach vorne gerückt ist und wahrscheinlich auch die Motivation vieler erhöht hat, zu bleiben.
Der Anblick der Puerta del Sol hat sich im Vergleich zur Vorwoche etwas geändert. Es gibt mittlerweile deutlich mehr an Laternen befestigte Zeltplanen, Zelte und Stände. An den Ständen gibt es Infomaterial, Sitzgelegenheiten zur thematischen Diskussion und viele „Infrastruktureinrichtungen”. Mir ist schon letzte Woche aufgefallen, dass die Demonstranten sehr gut organisiert sind. Es gibt Arbeitskreise für Kommunikation, Reinigung, Verpflegung, Presse, Recht, Veranstaltungen, usw. Auf der Webseite der Bewegung 15M gibt es eine Übersichtsgraphik (auch links: CC-Lizenz), ebenfalls interessant in diesem Zusammenhang ist eine große Schaugraphik von El País mit weiteren statistischen Daten über die Demonstranten.
Dass die „Hauptdemonstration” an der Sol die Woche über nicht mehr so voll wie letzte Woche noch war, könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die Proteste dezentralisieren — selbst innerhalb Madrids. Es gibt mittlerweile Arbeitsgruppen, um die Proteste in die Stadtteile zu tragen. Dies könnte meines Erachtens durchaus zu einer Vergrößerung der Proteste führen, da sich dann deutlich mehr Menschen daran beteiligen können. Denn Madrid ist sehr groß. Von den über 3 Millionen Einwohnern im engeren Umkreis (mit Umland leben hier 6,5 Millionen Menschen) gibt es viele, die 1–2 Stunden brauchen, um mit der Metro oder anderen Verkehrsmitteln zur Sol zu gelangen. Bei Protesten „vor der Haustür” werden sich womöglich mehr Menschen beteiligen.
Das linke Bild zeigt ein Plakat für eine Stadtteilversammlung letzten Samstag — von dem ich aber leider nichts berichten kann, da ich aufgrund meines Besuches nicht dort hin konnte. Laut El País kamen gestern in 41 Stadtteilen und 80 Städten innerhalb der Metropolregion Madrid mehrere tausend Menschen zu den lokalen Versammlungen. Nächstes Mal werde ich mir das wohl mal anschauen. Das untere Bild zeigt eine „Protestwand” mit Plakaten wie an der Sol, von denen hier immer mehr auftauchen. Mal schauen, wie es weiter gehen wird.
Photo: Anne-Christine Karpf
Was wollen die Demonstranten der Bewegung vom 15. Mai? Wie ich in einem früheren Beitrag schon geschrieben habe, gibt es nicht ein zentrales Anliegen. Die Probleme des Landes sind vielfältig. Die spanische Zeitung El País hat die am häufigsten proklamierten Forderungen zusammengefasst. Ich übersetze die Punkte im folgenden kurz. Auf einer deutschen Nachrichtenseite habe ich dies noch nicht gesehen; falls das jemand aber schon gesehen hat, bitte ich um einen Kommentar samt Link.
- Ablehnung von als ungerecht angesehenen Gesetzen und Prozessen; unter anderem Bologna-Prozeß, Wahlgesetz, Parteiengesetz und Ausländergesetz.
- Forderung nach einer Volksabstimmung über die Staatsform zwischen einer parlamentarischen Monarchie (das ist das aktuelle Staatssystem) und einer reinen Parlamentsdemokratie.
- Reformen des Finanzssystems, unter anderem eine progressive Mehrwertsteuer, höhere Steuern für höhere Einkommen, Tobin-Steuer gegen Finanzspekulationen, Verstaatlichung von Banken.
- Stärkere Förderung und Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und die Schaffung eines Fahrradnetzes. (Anmerkung von mir: Fahrräder werden im allgemeinen außerhalb von Touristenregionen von Spaniern fast nur als Sportinstrument wahrgenommen, kaum aber als Verkehrsmittel. Entsprechend gibt es auch außer in Touristenregionen fast keine Fahradwege oder sonstige Vorkehrungen für Fahradfahrer.)
- Reform des Arbeitsmarktes, unter anderem Abschaffung von „lebenslangen Löhnen” (?), geringere Bürokratie für Firmengründungen sowie eine Revision der Politikerbezüge zur Eindämmung von Korruption. (Anmerkung von mir: Nach zwei Aussagen von Bekannten von mir wäre die Korruption von Politikern hier nichts ungewöhnliches. Es wäre zwar nicht soooo schlimm wie anderswo, aber es würden immer wieder Skandale aufgedeckt und über etliche Politiker wäre ihre „Kaufbarkeit” bekannt.)
- Totale Trennung von kirchlichen und staatlichen Institutionen.
- Einführung direkter Demonkratie. Einführung von „Bezirksversammlungen/-räten” mit Unterstützung durch neue Medien zur besseren Partizipation.
- Verbesserung des Schutzes für prekäre Arbeitsverhältnisse und Eindämmung des Mißbrauchs von Praktika.
- Sofortige Schließung der Kernkraktwerke und verstärkte Förderung erneuerbarer Energien.
- Wieder-veröffentlichung privatisierter Unternehmen.
- Reduktion der Millitärausgaben und Schließung von Waffenfabriken
- Aufarbeitung der Franco-Zeit
Sonntag, 22. Mai 2011 |
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Die Demonstranten fühlen sich von den Parteien nicht ernst genommen. Um einen Eindruck von den inhaltsreichen Auseinandersetzungen der letzten Wochen zu bekommen, dokumentiere ich hier gefühlt 80% aller Wahlplakate, die derzeit im Kernbereich Madrids aushängen.
Wahlplakate für die linke PSOE. Links: „Die Regierung deiner Straße” / Rechts: „Der Präsident [der kleinen Leute | der normalen Menschen | des breiten Volkes]”
Plakat für die rechte PP mit der Spitzenkandidatin für die Präsidentschaft der Comunidad Madrid, die auch aktuell die Amtsinhaberin ist. (Im Original vermutlich ohne Schnurrbart.) „Ganz Spanien erwartete einen Wechsel. Wir beginnen am 22. Mai” (In Fett ist ihr Name gedruckt.)
Das mit Abstand substanzvollste Wahlplakat — allerdings nur mit Haue auf den politischen Gegner ohne direkte eigene Aussage. Plakat der rechten PP im Stile eines Plakats der linken PSOE mit dem Spanischen Regierungschef Zapatero und dem lokalen Spitzenkandidaten und dem Text „5 Millionen Arbeitslose”.
Das war es im Prinzip. Gut, in Deutschland kenne ich aus den letzten Jahren auch primär solche Plakate. Die politische Auseinandersetzung in weiteren Medien besteht übrigens zu einem bedeutenden Anteil aus gegenseitigen Anschuldigungen. (Worüber in der kommenden Plakatschau auch noch etwas zu sehen sein wird.) In diesem Klima, das nach einer Bekannten hier schon Jahre andauern würde, überrascht es nicht, dass sich viele von solchen Parteien keine Lösungen mehr versprechen.
Samstag, 21. Mai 2011 |
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Die Demonstranten haben von Anfang an angekündigt, die „Belagerung” der Sol bis zu dem Wahlsonntag aufrecht erhalten zu wollen. Die Lokalregierung hält dies für illegal, hat die Polizei aber bislang zurückgehalten, wenn man von einem Räumungsversuch am Dienstag abend absieht.
Am Donnerstag abend wurde eine Entscheidung des — sinngemäß übersetzt — Wahlkommitees bekannt, nachdem die Demonstrationen am Samstag und Sonntag nicht stattfinden dürfen. Dazu muss man als Hintergrund sagen, dass das spanische Wahlrecht vorsieht, dass weder am Wahltag selbst als auch einen Tag davor politische Veranstaltungen stattfinden dürfen. Es gibt dafür den schönen Ausdruck der „Tag der Reflexion”.
Doch spät am Freitag sind deutlich mehr Menschen auf der Sol gewesen als die beiden Tage zuvor. Kurz vor Mitternacht war auch in den vielen Straßen, die zur Sol führen, kaum noch ein Durchkommen möglich. Nach ersten Schätzungen waren gegen Mitternacht knapp 20.000 28.000 Menschen (nach neueren Schätzungen vom Samstag) auf und um die Sol herum versammelt, die sich damit dem Verbot widersetzten. Die Polizei verhielt sich zurückhaltend wie die Tage zuvor. Allerdings wüsste ich auch nicht, wie die Polizei eine Versammlung dieser Größe auflösen sollte.
Die Demonstranten skandierten insbesondere um Mitternacht herum öfter als sonst. An vielen Orten mittendrin hat es Kleinkunstaufführungen gegeben, die ausgibig beklatscht wurden. Ab halb zwei herum ist es auf der Sol etwas „luftiger” geworden. Viele Demonstranten haben sich auf die angrenzenden Plätze und Straßen verteilt. (Folgendes Bild zeigt einen etwas weiter entfernten Platz.)
In ganz Spanien waren laut der aktuellen „Twitterlage” erneut mehrere hunderttausend Menschen auf der Straße. Aus Barcelona werden 45.000 Teilnehmer gemeldet — aber bisher habe ich dafür keine offizielle Quelle gefunden.
Für den Erfolg der Demonstranten wird das nun beginnende Wochenende entscheidend sein. Sollten die Proteste nach dem Wahlsonntag abflauen, werden sie wahrscheinlich nur als Randnotiz in Erinnerung bleiben und könnten nach meiner Einschätzung bei vielen jungen Menschen zu einer weiteren Demoralisierung führen. Was wir auch in Deutschland merken könnten — wie ich schon in früheren Beiträgen schrieb, besteht besonders bei den besser qualifizierten Jugendlichen eine sehr hohe Auswanderungsbereitschaft — besonders stark nach Deutschland. Spannend wird auch sein, ob die Polizei im Laufe des Wochenendes doch noch den Befehl zur Räumung bekommen wird.
Samstag, 21. Mai 2011 |
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