Archiv für die Kategorie Madrid im Winter bis Sommer 2010/2011
In dieser Woche war es in Madrid bezogen auf die Proteste relativ ruhig. (Und bei mir in Bezug auf deren Beobachtung auch, da ich die gesamte Woche über Besuch bei mir hatte.) Hauptaufreger war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste in Barcelona. Wahrscheinlich war es deswegen am Freitag Abend / Nacht wieder sehr voll an der Sol; die Tage zuvor, an denen ich immer mal wieder vorbeischaute, war die Sol ungefähr halb voll. Auch wenn es zynisch klingt — die gewaltsame Niederschlagung in Barcelona hat der Bewegung „geholfen” in dem Sinne, dass sie in der Berichterstattung wieder nach vorne gerückt ist und wahrscheinlich auch die Motivation vieler erhöht hat, zu bleiben.
Der Anblick der Puerta del Sol hat sich im Vergleich zur Vorwoche etwas geändert. Es gibt mittlerweile deutlich mehr an Laternen befestigte Zeltplanen, Zelte und Stände. An den Ständen gibt es Infomaterial, Sitzgelegenheiten zur thematischen Diskussion und viele „Infrastruktureinrichtungen”. Mir ist schon letzte Woche aufgefallen, dass die Demonstranten sehr gut organisiert sind. Es gibt Arbeitskreise für Kommunikation, Reinigung, Verpflegung, Presse, Recht, Veranstaltungen, usw. Auf der Webseite der Bewegung 15M gibt es eine Übersichtsgraphik (auch links: CC-Lizenz), ebenfalls interessant in diesem Zusammenhang ist eine große Schaugraphik von El País mit weiteren statistischen Daten über die Demonstranten.
Dass die „Hauptdemonstration” an der Sol die Woche über nicht mehr so voll wie letzte Woche noch war, könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich die Proteste dezentralisieren — selbst innerhalb Madrids. Es gibt mittlerweile Arbeitsgruppen, um die Proteste in die Stadtteile zu tragen. Dies könnte meines Erachtens durchaus zu einer Vergrößerung der Proteste führen, da sich dann deutlich mehr Menschen daran beteiligen können. Denn Madrid ist sehr groß. Von den über 3 Millionen Einwohnern im engeren Umkreis (mit Umland leben hier 6,5 Millionen Menschen) gibt es viele, die 1–2 Stunden brauchen, um mit der Metro oder anderen Verkehrsmitteln zur Sol zu gelangen. Bei Protesten „vor der Haustür” werden sich womöglich mehr Menschen beteiligen.
Das linke Bild zeigt ein Plakat für eine Stadtteilversammlung letzten Samstag — von dem ich aber leider nichts berichten kann, da ich aufgrund meines Besuches nicht dort hin konnte. Laut El País kamen gestern in 41 Stadtteilen und 80 Städten innerhalb der Metropolregion Madrid mehrere tausend Menschen zu den lokalen Versammlungen. Nächstes Mal werde ich mir das wohl mal anschauen. Das untere Bild zeigt eine „Protestwand” mit Plakaten wie an der Sol, von denen hier immer mehr auftauchen. Mal schauen, wie es weiter gehen wird.
Photo: Anne-Christine Karpf
Was wollen die Demonstranten der Bewegung vom 15. Mai? Wie ich in einem früheren Beitrag schon geschrieben habe, gibt es nicht ein zentrales Anliegen. Die Probleme des Landes sind vielfältig. Die spanische Zeitung El País hat die am häufigsten proklamierten Forderungen zusammengefasst. Ich übersetze die Punkte im folgenden kurz. Auf einer deutschen Nachrichtenseite habe ich dies noch nicht gesehen; falls das jemand aber schon gesehen hat, bitte ich um einen Kommentar samt Link.
- Ablehnung von als ungerecht angesehenen Gesetzen und Prozessen; unter anderem Bologna-Prozeß, Wahlgesetz, Parteiengesetz und Ausländergesetz.
- Forderung nach einer Volksabstimmung über die Staatsform zwischen einer parlamentarischen Monarchie (das ist das aktuelle Staatssystem) und einer reinen Parlamentsdemokratie.
- Reformen des Finanzssystems, unter anderem eine progressive Mehrwertsteuer, höhere Steuern für höhere Einkommen, Tobin-Steuer gegen Finanzspekulationen, Verstaatlichung von Banken.
- Stärkere Förderung und Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und die Schaffung eines Fahrradnetzes. (Anmerkung von mir: Fahrräder werden im allgemeinen außerhalb von Touristenregionen von Spaniern fast nur als Sportinstrument wahrgenommen, kaum aber als Verkehrsmittel. Entsprechend gibt es auch außer in Touristenregionen fast keine Fahradwege oder sonstige Vorkehrungen für Fahradfahrer.)
- Reform des Arbeitsmarktes, unter anderem Abschaffung von „lebenslangen Löhnen” (?), geringere Bürokratie für Firmengründungen sowie eine Revision der Politikerbezüge zur Eindämmung von Korruption. (Anmerkung von mir: Nach zwei Aussagen von Bekannten von mir wäre die Korruption von Politikern hier nichts ungewöhnliches. Es wäre zwar nicht soooo schlimm wie anderswo, aber es würden immer wieder Skandale aufgedeckt und über etliche Politiker wäre ihre „Kaufbarkeit” bekannt.)
- Totale Trennung von kirchlichen und staatlichen Institutionen.
- Einführung direkter Demonkratie. Einführung von „Bezirksversammlungen/-räten” mit Unterstützung durch neue Medien zur besseren Partizipation.
- Verbesserung des Schutzes für prekäre Arbeitsverhältnisse und Eindämmung des Mißbrauchs von Praktika.
- Sofortige Schließung der Kernkraktwerke und verstärkte Förderung erneuerbarer Energien.
- Wieder-veröffentlichung privatisierter Unternehmen.
- Reduktion der Millitärausgaben und Schließung von Waffenfabriken
- Aufarbeitung der Franco-Zeit
Sonntag, 22. Mai 2011 | Abgelegt unter
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Die Demonstranten fühlen sich von den Parteien nicht ernst genommen. Um einen Eindruck von den inhaltsreichen Auseinandersetzungen der letzten Wochen zu bekommen, dokumentiere ich hier gefühlt 80% aller Wahlplakate, die derzeit im Kernbereich Madrids aushängen.
Wahlplakate für die linke PSOE. Links: „Die Regierung deiner Straße” / Rechts: „Der Präsident [der kleinen Leute | der normalen Menschen | des breiten Volkes]”
Plakat für die rechte PP mit der Spitzenkandidatin für die Präsidentschaft der Comunidad Madrid, die auch aktuell die Amtsinhaberin ist. (Im Original vermutlich ohne Schnurrbart.) „Ganz Spanien erwartete einen Wechsel. Wir beginnen am 22. Mai” (In Fett ist ihr Name gedruckt.)
Das mit Abstand substanzvollste Wahlplakat — allerdings nur mit Haue auf den politischen Gegner ohne direkte eigene Aussage. Plakat der rechten PP im Stile eines Plakats der linken PSOE mit dem Spanischen Regierungschef Zapatero und dem lokalen Spitzenkandidaten und dem Text „5 Millionen Arbeitslose”.
Das war es im Prinzip. Gut, in Deutschland kenne ich aus den letzten Jahren auch primär solche Plakate. Die politische Auseinandersetzung in weiteren Medien besteht übrigens zu einem bedeutenden Anteil aus gegenseitigen Anschuldigungen. (Worüber in der kommenden Plakatschau auch noch etwas zu sehen sein wird.) In diesem Klima, das nach einer Bekannten hier schon Jahre andauern würde, überrascht es nicht, dass sich viele von solchen Parteien keine Lösungen mehr versprechen.
Samstag, 21. Mai 2011 | Abgelegt unter
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Die Demonstranten haben von Anfang an angekündigt, die „Belagerung” der Sol bis zu dem Wahlsonntag aufrecht erhalten zu wollen. Die Lokalregierung hält dies für illegal, hat die Polizei aber bislang zurückgehalten, wenn man von einem Räumungsversuch am Dienstag abend absieht.
Am Donnerstag abend wurde eine Entscheidung des — sinngemäß übersetzt — Wahlkommitees bekannt, nachdem die Demonstrationen am Samstag und Sonntag nicht stattfinden dürfen. Dazu muss man als Hintergrund sagen, dass das spanische Wahlrecht vorsieht, dass weder am Wahltag selbst als auch einen Tag davor politische Veranstaltungen stattfinden dürfen. Es gibt dafür den schönen Ausdruck der „Tag der Reflexion”.
Doch spät am Freitag sind deutlich mehr Menschen auf der Sol gewesen als die beiden Tage zuvor. Kurz vor Mitternacht war auch in den vielen Straßen, die zur Sol führen, kaum noch ein Durchkommen möglich. Nach ersten Schätzungen waren gegen Mitternacht knapp 20.000 28.000 Menschen (nach neueren Schätzungen vom Samstag) auf und um die Sol herum versammelt, die sich damit dem Verbot widersetzten. Die Polizei verhielt sich zurückhaltend wie die Tage zuvor. Allerdings wüsste ich auch nicht, wie die Polizei eine Versammlung dieser Größe auflösen sollte.
Die Demonstranten skandierten insbesondere um Mitternacht herum öfter als sonst. An vielen Orten mittendrin hat es Kleinkunstaufführungen gegeben, die ausgibig beklatscht wurden. Ab halb zwei herum ist es auf der Sol etwas „luftiger” geworden. Viele Demonstranten haben sich auf die angrenzenden Plätze und Straßen verteilt. (Folgendes Bild zeigt einen etwas weiter entfernten Platz.)
In ganz Spanien waren laut der aktuellen „Twitterlage” erneut mehrere hunderttausend Menschen auf der Straße. Aus Barcelona werden 45.000 Teilnehmer gemeldet — aber bisher habe ich dafür keine offizielle Quelle gefunden.
Für den Erfolg der Demonstranten wird das nun beginnende Wochenende entscheidend sein. Sollten die Proteste nach dem Wahlsonntag abflauen, werden sie wahrscheinlich nur als Randnotiz in Erinnerung bleiben und könnten nach meiner Einschätzung bei vielen jungen Menschen zu einer weiteren Demoralisierung führen. Was wir auch in Deutschland merken könnten — wie ich schon in früheren Beiträgen schrieb, besteht besonders bei den besser qualifizierten Jugendlichen eine sehr hohe Auswanderungsbereitschaft — besonders stark nach Deutschland. Spannend wird auch sein, ob die Polizei im Laufe des Wochenendes doch noch den Befehl zur Räumung bekommen wird.
Samstag, 21. Mai 2011 | Abgelegt unter
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Die aktuelle Bewegung bezeichnet sich mittlerweile selbst als Revolution, was sich zum Beispiel in dem populären und auch auf der Sol propagierten Twitter-Schlagwort #spanishrevolution zeigt. Aktuell halte ich das (noch?) für übertrieben. Viele junge Menschen sind zwar wütend, aber nach meiner Einschätzung überwiegt sowohl bei den Leuten, die ich kenne, als auch bei vielen Demonstranten, die nicht ständig Reden schwingen, eine gewisse Resignation und ein… hm… nennen wir es „fatalistischer Realismus”.
Bedenken muss man auch, dass es die letzten Tage auf der Sol zwar fast immer sehr voll gewesen ist, aber das der Platz sooo groß auch nicht ist, als dass man dafür zehntausende Menschen bräuchte. Auch fällt auf, dass in der Relation zu der Anzahl an Studenten sich nur relativ wenige an den Protesten beteiligen. Zum Vergleich: Es gibt in Madrid 19 Universitäten; alleine die Universidad de Complutense (die größte hier) hat knapp 85.000 Studenten. Insgesamt sind nach einem Überschlag von mir und ohne Berücksichtigung der Fernuniversitäten ungefähr 253.000 Studenten eingeschrieben. Dagegen wirken die paar Demonstranten nicht mehr so viel. Insbesondere, da ja nicht nur Studenten protestieren, sondern auch andere Jugendliche.
Ich will das nicht kleinreden, aber nach einem gewaltigen Massenaufstand sieht das für mich gerade nicht aus. Ich habe in Deutschland schon öfters Demonstrationen in dieser Größe erlebt. Neu ist mir allerdings, dass relativ viele Demonstranten so engagiert sind, einen längeren Atem haben, und die Demonstrationen sich nicht nur auf einen Ort beschränken. Die Liste der Orte mit Demonstrationen nach Angaben der Initiative Toma la plaza ist beeindruckend lang; auch in Berlin soll es eine kleine Demonstration geben (gegeben haben?).
Der Zeitpunkt der Proteste könnte sich noch als Problem erweisen. Speziell in Madrid ist es so, dass sehr viele Menschen — insbesondere Studenten — die Stadt ab Ende Juni verlassen und erst im September wiederkommen. Semester gibt es hier nicht, man zählt in akademischen Jahren. Es gibt keine Pause zwischen dem, was in Deutschland als Wintersemester und Sommersemester bezeichnet wird; dafür findet während des Hochsommers praktisch nichts an Universitäten statt. Zudem ist es gerade in Madrid bedingt seine hohe Lage und mangels Wasser im Hochsommer unerträglich heiß. In dieser Zeit ziehen viele junge Menschen zu ihren Eltern auf das Land oder an die Küste. Das sieht man auch daran, dass hier gerade im Juli und August extrem viele Wohnungen frei sind. Ich habe schon öfters Anzeigen für Angebote im Juli und August gelesen im Stil „Miete für zwei Monate, zahle für einen”. Zwar beschränken sich die Proteste nicht auf Madrid, aber wie auch die nationalen Medien schreiben, befindet sich hier ihr „Fokuspunkt” — der organisatorisch nach einer Umfrage von El País zudem überwiegend von Studenten gestemmt wird.
Aber, um auf das Titelbild dieses Beitrages zurückzukommen: Ich habe in Dokumentationen über die Wendezeit oft Aussprüche der Art „Jetzt ist alles möglich!” gehört. Falls die Proteste in dieser Form noch deutlich über die nächste Woche hinausgehen sollten, könnte es durchaus zu Veränderungen kommen — wenn auch nicht unmittelbar. Diskussionen haben in dieser Woche auch in den Medien begonnen, allerdings hören sich die Aussagen der meisten Politiker für mich bisher relativ „hohl” an. In wie weit sich „neue” Politiker mit den existierenden Zwängen auseinandersetzen und es anstelle von Verwalten mit Regieren (wir erinnern uns: lat. regere: lenken, leiten. Also genau das, was zum Beispiel Merkel auch nicht macht.) versuchen würden, bleibt eine offene Frage. Aber vielleicht erscheint vielen Spaniern nach dieser Woche vieles nicht mehr zwingend… „alternativlos”.
Freitag, 20. Mai 2011 | Abgelegt unter
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Dieser Beitrag enthält eine Sammlung von Plakaten, Transparenten und Aushängen von Donnerstag Abend. Ich möchte mich für die von mir ungewohnt schlechte Qualität entschuldigen; wer es noch nicht weiß: Meine DSLR ist Schrott und ich habe gerade nur noch eine iPhone-Kamera, auf die meine lichtstarken Festbrennweiten nicht passen… 🙁 Gerade jetzt… *heul*
„Früher nannten sie es Diktatur, heute nennen sie es Demoktratie, aber niemand hört uns!”
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Freitag, 20. Mai 2011 | Abgelegt unter
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